Samstag, 18. Dezember 2010

Der 9. März 1945 in der Stadt Datteln

Der Altersunterschied zwischen Johannes Buchmann und mir beträgt etwas mehr als 30 Jahre. Dennoch gibt es Duplizitäten in unser beider Leben. Nicht nur jene, dass wir beide auf der Suche nach neuen Herausforderungen in unseren Dreißigern in die USA gegangen sind. Die Parallelen betreffen vor allem die Kriegsjahre. Buchmanns Heimatstadt Dorsten liegt nur wenige Kilometer von der Heimatstadt meiner Mutter entfernt, von Datteln, das ebenfalls zum Kreis Recklinghausen gehört. So wie Buchmanns wurde auch ihr elterliches Haus bei einem Bombenangriff 1945 komplett zerstört. Sie selbst überlebte den Angriff nur knapp in einem Bunker in der Nachbarschaft.

Sie wohnte damals in einer Straße unweit der großen Schleuse, die am Ostende des Wesel-Datteln-Kanals den Wasserpegel zum Datteln-Hamm- und Dortmund-Ems-Kanal ausgleicht. Der Wesel-Datteln-Kanal verläuft entlang der Lippe und passiert 20 Kilometer weiter westlich die Stadt Dorsten. Was am 9. März 1945 zwischen 13:56 und 14:12 Uhr passierte, hat eine Webseite der Freiwilligen Feuerwehr Datteln folgendermaßen beschrieben:

"Grossangriff mit über 1.200 Sprengbomben auf die Zeche und das Wohngebiet der Stadt Datteln. 140 Tote und 73 Verletzte in der Zivilbevölkerung, 325 Kriegsgefangene tot, 64 verletzt; 482 zerstörte bzw. schwer beschädigte und 775 mittelschwer sowie ca. 1.000 leicht beschädigte Häuser. Datteln-Wesel Kanal bis Schleuse Ahsen, Dortmund-Ems-Kanal bis Henrichenburg und Datteln-Hamm-Kanal bis Waltrop ausgelaufen. Sachsschaden ca. 70 Millionen Reichsmark.Zerstört werden u. a. die Josephsschule und die Kirche in Hagem, das Kolpinghaus und die Amanduskirche. Das Krankenhaus wird schwer beschädigt."

Das Wort "ausgelaufen" klingt ziemlich harmlos. Tatsächlich war die nördliche Kanalböschung durch einen schweren Bombentreffer aufgerissen worden. Und so stürzten sich die Wassermassen nach Norden in die flachen, landwirtschaftlich genutzten Gebiete, in denen nur sehr wenige Menschen lebten. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, was passiert wäre, wenn die Stadtseite des aufgedämmten Kanals zerstört worden wäre. Das Wasser wäre dann in die bereits zerstörte Innenstadt von Datteln gelaufen, wo Menschen in den Kellern saßen und auf Entwarnung warteten.

Was genau das Ziel der Bomben war, konnten die Menschen an jenem Tag nicht nachvollziehen. Angesichts der schweren Schäden im Zentrum drängte sich zunächst eigentlich nur ein Schluss auf: Dass es sich nicht um einen punktgenauen Angriff handelte, der etwa die Schleuse selbst und die dortige Flakstellung ausschalten sollte. Es wirkte eher wie eine Version aus dem Strategiebuch der zermürbenden, flächendeckenden Zerstörung, wie sie gegen Ende des Krieges häufig stattfand. Fünf Tage später kamen die Bomber wieder. Diesmal gab es 34 Tote in der Zivilbevölkerung und weitere Verwüstung im Stadtgebiet. Dazu ein Großbrand auf der Zeche Emscher-Lippe, die als Benzol-Produktionsstandort eine kriegswichtige Bedeutung hatte. Am 2. April, dem Ostermontag war schließlich alles vorbei. Da marschierten Truppenteile der 9. US-Armee in die Stadt ein.

Die Aufzeichnungen der Royal Air Force aus jener Zeit geben zumindest Anhaltspunkte, um was es bei dem Angriff vom 9. März in der Hauptsache ging. Die 159 Lancaster-Maschinen der No. 3 Group fanden beim Anflug eine wolkenverhangene Zielregion vor. Irgendwo da unten, so wussten sie, lag die Benzol-Anlage der Zeche Emscher Lippe. Die sollte außer Gefecht gesetzt werden. "Der Bombenabwurf schien präzise verlaufen zu sein", notierte die RAF den Ablauf der Ereignisse damals. "Aber Ergebnisse waren nicht zu sehen." Kein Wunder. Die Bomberbesatzungen warfen ihre Ladung blind ab. Die Positionsbestimmung für den Abwurf errechnete man mit der sogenannten Gee-H-(oder auch G-H) Methode, die auf einer Navigation per Funk basierte. Je weiter die Flugzeuge von ihrem Ausgangspunkt entfernt waren, desto größer war die Abweichung (bis hin zu mehreren Kilometern).

Es dauerte übrigens mehrere Jahre, bis das Haus meiner Mutter wieder aufgebaut war. Kurze Zeit später entschied sie sich, vom Nordrand des Ruhrgebiets in das industriell aufblühende Südwestfalen zu ziehen. Ich habe später auf mehreren Reisen nach Datteln das Haus, den Kanal und die Schleuse gesehen. Von den Bombenschäden waren keine Spuren geblieben.

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