Sonntag, 5. Dezember 2010

Aus erster Hand

Jeder Mensch hat eine Geschichte, die es verdient, aufgezeichnet zu werden. Das ist der Leitgedanke, mit dem ich seit ein paar Jahren neben meiner Arbeit als Journalist für deutsche und Schweizer Zeitungen und Radiosender an die Aufgabe herangehe, die Lebenserinnerungen von Privatleuten aufzunehmen, um sie für die Nachwelt zu erhalten.

Auf diese Weise sind eine Reihe von umfangreichen Videoproduktionen entstanden, in denen die Hauptpersonen vor der Kamera ihre Biographie und die ihrer Familien erzählen. In Amerika zählt man solche Produktionen zur Kategorie "oral history". Das ist so etwas wie eine Geschichtsschreibung von unten. Sie basiert nicht auf Depeschen und Akten, Protokollen und Tagebüchern, sondern auf der Gedächtnisleistung von Menschen, deren Leben durch zahllose Ereignisse nachhaltig geprägt wurde.

Man lernt sehr viel bei solchen Produktionen. Ich habe auf diese Weise beispielsweise aus erster Hand Geschichten von jungen deutschen Juden erfahren, die nach einem Aufenthalt im KZ auswandern konnten und nur knapp der Vernichtungsmaschinerie entkamen. Ich habe so bei einer anderen Gelegenheit zum ersten Mal davon erfahren, auf welche Weise mutige Frauen in den Niederlanden während der Besatzungszeit Juden in ihrem Haus versteckten und dafür sorgten, dass alle den Terror überlebten. Ich saß unter anderen Vorzeichen dem ehemaligen Sicherheitschef eines berühmten amerikanischen Generals gegenüber und erfuhr von ihm, wie es in jenen Jahren im US-Militär zuging.

Eine Perspektive jener Zeit hatte ich auf diesem Weg bis vor einem Jahr nicht kennengelernt: die des klassischen deutschen Soldaten, der jenen Teil der Geschichte repräsentierte, ohne den das Leid der anderen nicht erst entstanden wäre. Die Gelegenheit dazu ergab sich Ende 2009 ganz zufällig bei einer Veranstaltung der Öffentlichen Bibliothek der kleinen Stadt Sharon in Connecticut, in der der ehemalige Luftwaffen-Feldwebel Johannes Buchmann lebt. Buchmann war Anfang der fünfziger Jahre aus beruflichen Gründen in die USA gezogen und hatte im Laufe der Zeit in der attraktiven Neu-England-Landschaft ein zweites Zuhause gefunden.

Der einstige Bordfunker wollte keine Videobiographie produzieren, sondern seine Erinnerungen in Buchform herausbringen. So begannen wir vor einem Jahr mit diesem Projekt, dessen Grundgerüst aus mehr als 20 Stunden Interviews besteht. Die vielen Detailinformationen wurden anschließend durch zahllose Recherchen angereichert, um die einzelnen Episoden und Erlebnisse in einen informativen Kontext zu stellen. Der gestattet Generationen, die nach dem Zweiten Weltkrieg geboren wurden, die Gedanken und Entscheidungen, die Gefahr, das Dilemma und die Traumatisierung eines Menschen einzuordnen, dem es so erging wie Millionen. Diese eine Geschichte sticht jedoch zugleich aus den vielen heraus, die im Laufe der Jahre erschienen sind. Es ist keine Rechtfertigungsliteratur und keine Landser-Prosa, sondern eher so etwas wie die Geschichte eines modernen Simplicissimus, jener berühmten Figur aus der deutschen Literaturgeschichte, der mit einer besonderen Mischung aus Fatalismus, Vorsicht und Energie das Schlimmste überstand.

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