Der Rest wurde am Boden zerstört: Schauplatz Waldviertel: Die Flucht aus der Gefangenschaft

Dienstag, 8. Februar 2011

Schauplatz Waldviertel: Die Flucht aus der Gefangenschaft

Es gibt in den Erinnerungen von Johannes Buchmann einen Schauplatz, an dem seine Lebensgeschichte eine markante Wendung nahm. Es ist die kleine Stadt Waidhofen an der Thaya, einem Ort im Waldviertel im Nordosten von Österreich. Dort wurde er nach der Kapitulation der deutschen Streitkräfte im Mai 1945 in einem Kriegsgefangenenlazarett der Roten Armee gefangen gehalten, nachdem er zuvor mehrere Kilometer weiter nördlich auf der anderen Seite der Grenze nach Tschechien arrestiert worden war. Aus dieser Gefangenschaft ist der Feldwebel der Luftwaffe zwei Monate später mit einem Oberleutnant der Wehrmacht entwichen. Die Flucht war hervorragend vorbereitet und gelang.

Genau 60 Jahre später ist Johannes Buchmann von den USA aus noch einmal nach Waidhofen gereist und hat sich auf Spurensuche begeben – nach Linz und ins Waldviertel, dem "Ahnengau des Führers", wo sich die Wege des jungen Deutschen und die der Ursprünge der Ideologie, die zur totalen Vernichtung führte, auf eine kuriose Weise gekreuzt hatten. Im Buch berichtet er von dieser Rückkehr und beschreibt die Wurzeln der Nazis in der Stammregion der Hitlers. Gleichzeitig verknüpft er seine eigenen Erlebnisse und Erfahrungen mit mehreren hilfreichen Sekundärquellen. Darunter vor allem das Buch des aus Waidhofen stammenden Christoph Schadauer Das Jahr 1945 im politischen Bezirk Waidhofen/Thaya. Schadauer hatte in den achtziger Jahren für seine Arbeit noch sehr viele Zeitzeugen befragen können und eine geschichtswissenschaftlich wertvolle Arbeit veröffentlicht, die es einem gestattet, die nur kurze Geschichte dieses Lagers der Roten Armee besser einzuordnen und nachzuvollziehen.

Weitere Materialien waren von Wert. Darunter auch die Dissertation der Waidhofener Pädagogin Ilse Wais ("Das Kriegsende im Bezirk Waidhofen an der Thaya und die Verhältnisse danach") und die Spurensuche des Schriftstellers Peter Härtling, der im benachbarten Zwettl in der gleichen Zeit seinen in Gefangenschaft geratenen Vater verloren hatte ("Zwettl: Nachprüfung einer Erinnerung“).

Die Niederösterreichischen Nachrichten, eine Wochenzeitung der Region, haben in dieser Woche denn auch das Buch ihren Lesern vorgestellt. "Die Zeitzeugen werden immer weniger", schrieb Hannes Ramharter in seinem Artikel. "da sind die Aufzeichungen eines Kriegsgefangenen im großen Lager des Waidhofner Stadtparks über die Zustände jener Zeit hochinteressant."

Siehe auch den Blogpost über Fußnoten und Quellen.

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Über Johannes Buchmann und sein Buch

Johannes Buchmann wurde 1921 in der westfälischen Stadt Dorsten geboren und meldete sich als 18-jähriger freiwillig zur Luftwaffe. Als Bordfunker nahm er in einem Bombenflugzeug vom Typ Junkers Ju-88 an den Kampfhandlungen im Mittelmeer teil, wurde an verschiedenen Standorten in Deutschland, Frankreich und Dänemark eingesetzt und landete, als die Luftwaffe kurz vor dem Ende des Krieges aus Mangel an Material und Einsatzmöglichkeiten abgewickelt wurde, in einer Infanterieeinheit.

Buchmann geriet wenige Tage nach der Kapitulation im mährisch-österreichischen Grenzgebiet in sowjetische Gefangenschaft, aus der er zwei Monate später ausbrach. Die Flucht gelang. Und so kehrte er im Juli 1945 in seine von Bomben zerstörte Heimatstadt zurück. Sein Elternhaus war nur noch Schutt und Trümmer.

Das Erlebnis von Krieg, Gefangenschaft und Zerstörung prägten Buchmann, der nach dem Studium der Gerbereichemie für einen deutschen Konzern in die USA ging, wo er seitdem lebt. Die amerikanische Wochenzeitung "Litchfield County Times" schrieb über seine Memoiren: "Er ist ein Überlebender, der Dinge gesehen hat, die die meisten nur aus Büchern kennen". Darunter: ein Absturz mit voller Bombenladung und die drohende Gefahr eines russischen Standgerichts.

Seine Erinnerungen an die Zeit sind im Dezember im Aachener Helios Verlag erschienen. Die Hardcover-Ausgabe hat einen Umfang von 114 Seiten und kostet € 12,8o.

Das Buch basiert auf zahllosen langen Gesprächen und Recherchen, für die Johannes Buchmann – ein Mensch ohne Computer und ohne Internet-Anschluss – ohne Unterstützung sehr viel länger gebraucht hätte.

Über den Autor dieses Blogs

Jürgen Kalwa lebt seit 1989 als Journalist und Buchautor in New York und Connecticut. Zu seinen Auftraggebern gehören die Frankfurter Allgemeine Zeitung, der Tages-Anzeiger in Zürich sowie der Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur. Als Produzent von Videobiographien beschäftigt er sich immer wieder intensiv und ausführlich mit den Lebensgeschichten von Menschen, die als sogenannte "oral history" ihren eigenen, ganz besonderen Stellenwert haben. Sie präsentieren Geschichte von unten. Mehr dazu auf der Webseite von IDENTITEAM.

Jürgen Kalwa hat Johannes Buchmanns Erinnerungen aufgeschrieben und dabei, wie schon in anderen Biographien zuvor, auch diesmal in der Beschäftigung mit den vielen Einzelheiten erneut bestätigt gefunden, dass in der Lebensgeschichte eines einzelnen sehr viel mehr steckt als eine Anhäufung von Episoden. Buchmanns Geschichte ist die des modernen Simplicissimus.